Reverse Culture Shock: Wenn sich das Kind zu Hause fremd fühlt

Leonie
von Leonie
Verfasst am 22. Juni 2023

Es ist ein Problem, über das meist nur wenig gesprochen wird, das aber viele Austauschschüler:innen nach ihrer Rückkehr betrifft: der „Reverse Culture Shock“ oder auch „Re-Entry Shock“ (zu Deutsch: Umgekehrter Kulturschock) genannt. Dabei handelt es sich um teils starke emotionale Schwierigkeiten beim Wiedereinleben in das heimatliche Umfeld. Häufig treffen sie nicht nur die Heimkehrenden selbst, sondern auch die Eltern und Familien völlig unvermittelt. Nach dem freudigen Wiedersehen fällt das Kind unerwartet in eine Art tiefes Loch. Übellaunigkeit, Antriebslosigkeit, Frust und Heimweh nach dem Leben im Gastland stehen plötzlich an der Tagesordnung.
Von diesen Gefühlen ihrer Kinder berichten uns viele Eltern unserer Teilnehmenden. Wir möchten uns in diesem Beitrag deshalb dem Phänomen des Reserve Culture Shock einmal näher widmen und versuchen, Ihnen einige Strategien und Tipps im Umgang mit diesem Problem an die Hand zu geben.

Wie macht sich ein Reverse Culture Shock bemerkbar?

reverse culture shock auswirkungen
So macht sich ein umgekehrter Kulturschock meistens bemerkbar. (c) Ayusa-Intrax

Der Reverse Culture Shock ist ein Problem, das Rückkehrende individuell verschieden stark treffen kann. Manche haben damit wenig bis gar keine Probleme, während wieder andere extrem und für längere Zeit darunter leiden. Die Anzeichen des „umgekehrten Kulturschocks“ ähneln sehr stark denen des ursprünglichen Kulturschocks, der am Anfang des Austausches im Gastland auftreten kann. Die unterschiedlichen Phasen der Eingewöhnung im Ausland entsprechen dabei im Großen und Ganzen auch denen des Wiedereinlebens in der häuslichen Umgebung.

Zu Beginn des Auslandsabenteuers folgt der berühmten „Honeymoon-Phase“, bei der allem Neuen mit Freude und Faszination begegnet wird, häufig die erste Tiefphase. Der Zauber des Anfangs ist verflogen und das erste Heimweh setzt ein. Im Anschluss kommt die Zeit der Anpassung und Eingewöhnung. Mögliche Startschwierigkeiten werden überwunden, die Sprachkenntnisse verbessern sich, neue Freundschaften werden geschlossen. Schließlich hat man sich erfolgreich im neuen Zuhause eingelebt.

Ganz ähnliche Phasen des Aufs und Abs werden auch beim Reserve Culture Schock erlebt. Das sogenannte W-Modell (entwickelt von John and Jeanne Gullahorn) veranschaulicht diesen Prozess. Auf die erste Wiedersehensfreude folgt häufig eine Tiefphase, die von Symptomen wie Heimweh nach dem Gastland und Anpassungsschwierigkeiten an das eigentliche Zuhause gekennzeichnet ist. Doch warum ist das überhaupt so, kommen doch die Rückkehrenden nicht in eine neue Umgebung, sondern „nur“ in ihre alte und bereits vertraute Umgebung zurück?

w-modell reverse culture shock
Das W-Modell zeigt die ähnlich verlaufenden Phasen während des Auslandsaufenthaltes und nach der Rückkehr. (c) Ayusa-Intrax

Warum das Wiedereinleben so schwerfallen kann

Umgang mit dem „neuen Ich“

reverse culture shock symptome
Anpassungsstörungen, negative Stimmung, Heimweh nach dem neuen Zuhause: Dieses sind nur einige der Symptome, die bei einem Reverse Culture Shock auftreten können.

Sowohl unser kulturelles als auch das persönliche Umfeld formen maßgeblich unsere Identität und die Sicht, die wir auf unsere Umwelt haben. Während der Zeit im Ausland werden wir von neuen Einflüssen geprägt und ändern so manche unserer Gewohnheiten und Ansichten. Je länger wir dabei in einer anderen Kultur leben, desto stärker ist dies der Fall. Gerade im Jugendalter sind Persönlichkeitsentwicklung und Persönlichkeitsfindung noch in vollem Gange. Je jünger wir sind, desto leichter fällt es uns deshalb in der Regel auch, uns zu verändern.

Manche dieser Veränderungen an Ihrem Kind werden Sie als Eltern sicher begrüßen, andere vielleicht weniger nachvollziehen können. Ungeachtet, wie Sie diese Entwicklungen letztendlich bewerten, werden die neuen Erfahrungen im Gastland die Identität ihres Kindes beeinflussen. Ihr Sohn oder Ihre Tochter wird also nicht mit dem „alten Ich“ zurückkehren. Vielmehr herrscht bei den Heimkehrenden nach der Rückreise häufig das Gefühl vor, nun „zwischen zwei Welten“ zu stehen und ein anderer Mensch geworden zu sein.

Doch natürlich verändert sich während der Zeit im Ausland nicht nur Ihr Kind. Auch das Leben in der Heimat wird nicht stehen bleiben. Sicherlich werden auch Sie als Familie zahlreiche Erlebnisse haben, die Ihr Kind nicht unmittelbar miterleben wird. Gleiches gilt für die Freunde Ihrer Tochter oder Ihres Sohnes. Auch sie werden in der Zeit neue und prägende Erfahrungen machen, sich weiterentwickeln und verändern. Es finden also auf beiden Seiten Veränderungen statt, die beide nach der Rückkehr auch erst einmal begreifen und verarbeiten müssen.

Falsche Erwartungen verschärfen den Reverse Culture Shock

umgekehrter kulturschock nach der rückkehr aus dem ausland
Die lang ersehnte Rückkehr des Kindes bedeutet nicht immer nur Wiedersehensfreude.

Während die Vorbereitung auf den Austausch meistens sehr umfangreich und intensiv ist, fehlt häufig die Auseinandersetzung mit der „Zeit danach“. Die Erfahrung zeigt deutlich, dass die Herausforderungen eines Schüleraustausches nicht mit dem Rückflug nach Hause vorbei sind. Im Gegenteil, es kann sogar sein, dass die Zeit des Wiedereinlebens deutlich schwerer fällt als die Eingewöhnung im Ausland. Während die meisten Schüler:innen und ihre Familien mit einem Kulturschock im Ausland rechnen, trifft sie der Reverse Culture Shock oft unvermittelt. Statt der erwarteten Freude über die Rückkehr und das Wiedersehen, wird der familiäre Alltag plötzlich bestimmt durch Traurigkeit, Frust, Ablehnung und Fernweh des Kindes. 

Gerade für Teenager ist das Wiedereinleben in der Heimat oft besonders schwer. Ältere Menschen haben in der Regel bereits mehrere Veränderungen der persönlichen Lebenssituationen durchlebt und kennen die damit verbundenen Gefühle. Für viele Jugendliche handelt es sich hingegen meist um eine völlig neue Situation, für deren Umgang sie noch keine Erfahrungswerte besitzen. Während nach der Ankunft im Gastland die vielen neuen und aufregenden Erlebnisse für Ablenkung sorgen, kehrt nach der Rückkehr nach Hause äußerlich schnell wieder der altbekannte Alltag ein – und mit ihm oft das Stimmungstief.

Häufige Reaktionen vieler Rückkehrenden sind Ablehnung und Kritik an ihrer „neuen alten Umwelt“. Das eigene Zuhause wird als langweilig empfunden, die Zeit im Ausland hingegen als positiv und spannend. Auch kulturelle Gepflogenheiten des Heimatlandes werden oft abgewertet und als ausschließlich negativ wahrgenommen. Das mag objektiv oder rational betrachtet nicht nachvollziehbar sein, ist aber eine natürliche Reaktion auf die plötzlich veränderte Lebenssituation.

Wie Sie Ihr Kind jetzt unterstützen können

Alles eine Frage der Zeit

herausforderungen nach der rückkehr
Alles nur eine Frage der Zeit: Auch ein Reverse Culture Shock geht wieder vorbei.

Sicher fragen Sie sich, wie Sie Ihrem Kind beim Wiedereinleben am besten zur Seite stehen können. Das bloße Wissen um einen möglichen Reverse Culture Shock ist bereits ein wichtiger Schritt. Er hilft dabei, die Anzeichen zu erkennen und richtig zu deuten, was zu weniger Missverständnissen und mehr Verständnis zwischen Ihnen als Eltern und Ihrem Kind führt.

Geduld und Akzeptanz sind nicht immer einfach aufzubringen, aber in dieser Zeit enorm wichtig. Auch wenn negative Kommentare, Ablehnung und schlechte Laune für Eltern sehr verunsichernd und verletzend sein können, sollten Sie diese nicht als persönliche Angriffe werten. Versuchen Sie, das Wiedereinleben und die damit verbundenen Herausforderungen als Teil einer normalen und vor allem zeitlich begrenzten Phase zu sehen, die wieder vorübergehen wird.

Kommunikation ist auch in dieser Situation ein wichtiger Schlüssel. Häufig fühlen sich Schüler:innen nach der Rückkehr aus dem Ausland unverstanden und haben den Eindruck, niemand könne ihre Lage nachvollziehen. Dies ist verständlich, schließlich haben sie die Auslandserfahrung auch alleine durchlebt. Versuchen Sie jetzt besonders, ein offenes Ohr anzubieten und bekunden Sie aktives Interesse an den Erfahrungen, die Ihr Kind gemacht hat. Erwarten Sie nicht, als Familie bereits nach wenigen Tagen wieder zum „Business as usual“ zurückkehren zu können, sondern geben Sie Ihrem Kind die Zeit, die es braucht. Wie lange diese erneute Anpassungsphase dauert, lässt sich leider nicht vorhersehen, sondern ist individuell ganz verschieden.

Finden Sie neue Gemeinsamkeiten

Bei unserem Returneetreffen tauschen sich die Rückkehrenden nach ihrer Heimkehr mit anderen Ayusa-Austauschschüler:innen über ihre Höhen und Tiefen aus. (c) Ayusa-Intrax

Ihr Kind hat im Ausland neue Interessen oder Alltagsrituale entwickelt? Vielleicht können Sie als Eltern versuchen, daran teilzuhaben und so beide Welten ein Stück weit verbinden, statt diese strikt zu trennen. Beispielsweise könnten Sie zusammen ein Gericht aus dem Gastland kochen oder liebgewonnene Traditionen Ihres Kindes als Familie ausprobieren und in Ihr eigenes Familienleben integrieren.

Sollte sich Ihr Kind zurückziehen und Trübsal blasen, kann es helfen, neue Impulse anzuregen. Vielleicht motivieren Sie Ihr Kind dazu, eine Freizeitbeschäftigung anzufangen oder fortzusetzen? Oder Sie ermutigen es, neue Zukunftspläne zu schmieden? All das kann helfen, wieder schneller im Hier und Jetzt anzukommen und sich nicht zu verkriechen.

Auch kann es helfen, sich mit anderen Austauschschüler:innen zu vernetzen. Unser Returneetreffen, das wir jährlich im Spätsommer anbieten, bietet dazu beispielsweise eine gute Gelegenheit. Der Erfahrungsaustausch mit anderen Gleichgesinnten ist enorm hilfreich und kann das Wiedereinleben unterstützen. Der Reverse Culture Shock und wie man damit umgehen kann ist auch beim Returneetreffen stets Thema bei unseren Workshops.

Wir hoffen, dass wir Ihnen mit unserem Beitrag eine kleine Hilfestellung zum Thema geben konnten. Sie haben Fragen oder Anregungen? Gerne können Sie sich jederzeit an Ihre bzw. Ihren Ansprechpartner:in bei uns wenden. Wir freuen uns, von Ihnen zu hören und wünschen Ihnen und Ihrer Familie ein gutes Wiedereinleben!

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